Aktenplan

Aus Agiles Verwaltungswissen
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Stand: 24.05.2020
Letzte Bearbeitung: Wolf Steinbrecher

Aktenplan - klassisch oder richtig digital?

Aktuell wird eine Diskussion geführt, ob und ggf. welche Form von Aktenplänen denn überhaupt noch bei Einführung der E-Akte benötigt werden.Dabei gibt es zwei Extreme:

  • auf der einen Seite gibt es Stimmen, die die vorfindlichen Aktenpläne verteidigen und auch in eine DMS-Software überführen wollen;
  • und auf der anderen Seite findet die Position Unterstützung, die jede aktenförmige Ordnung für überholt erklärt.

Die "bewahrende" Strömung schreibt den Trend der letzten 25 Jahre - in denen eine ungeplante, spontane, vielfach ungeordnete Einführung elektronischer Arbeitsweisen an Büroarbeitsplätzen in der Verwaltung wie der Industrie stattfand - einfach fort. Diese Tendenz kann man einfach mit "Übertragung von Denkweisen aus der Papierwelt in elektronische Medien" charakterisieren.

Damit wurden aber die Möglichkeiten der neuen digitalen Plattformen nicht wirklich erkundet und genutzt. Insbesondere der gemeinsame ämterübergreifende Zugriff auf Dokumente und Vorgänge - der ja eigentlich den großen Zuwachs an Freiheit in der täglichen Arbeit darstellen könnte - wurde ignoriert und das enge Zuständigkeitsdenken und die Ablage in engen Silos beibehalten. Ging vermutlich auch nicht anders, könnte man entschuldigend sagen - denn es war eben ein ungeplanter Prozess.

Weil das aber im Ergebnis so unbefriedigend war, hat sich eine zweite Strömung etabliert, die erklärt: im Zeitalter von Suchverfahren à la Google in Verbindung mit Volltextsuche braucht man Akten - ja: eigentlich Ordner jeder Form - überhaupt nicht mehr. Wenn ich ein Dokument suche, kann ich doch einfach googeln und werde es wohl auch mit großer Wahrscheinlichkeit finden.

Uns vom FAV geht es darum, eine vermittelnde Position zwischen zwei Extremen vorzustellen und für sie zu werben. Wir möchten dazu einladen, die Umsetzung der eGovernment-Gesetze zu einer gründlicheren Reflexion zu nutzen. Und um unsere diesbezüglichen Ergebnisse schon mal vorwegzunehmen: wir brauchen Ordnungsstrukturen (vielleicht noch mehr als in der Papierwelt, angesichts der Informationsfluten, denen wir ausgesetzt sind); aber diese Ordnungsstrukturen sollten der neuen digitalen Welt angepasst sein und nicht das Papierdenken erneut wiederholen. Dadurch werden sie nämlich auch überraschend einfach.

Die vorhandenen Aktenpläne werden der modernen Arbeitswelt nicht gerecht

Sie spiegeln die Silos der Papierwelt wider

In der Papierwelt konnte man nicht von verschiedenen Arbeitsplätzen gleichzeitig auf die gleiche "Akte" zugreifen. Deshalb waren die Akten (nach weitgehender Abschaffung der Zentralregistraturen durch die Büroreform der 1920er Jahre) immer "Eigentum" eines Sachgebiets oder Amtes. Alles andere machte keinen Sinn: ein anderes Amt oder eine andere Abteilung zwei Korridore oder gar zwei Stockwerke weiter konnte nicht (mit vertretbarem Aufwand) mit den gleichen Akten arbeiten. Und das war auch weniger häufig nötig als heute, wo viele Prozesse bereichsübergreifend sind.

Abbildung 1: Viele Vorgänge laufen heutzutage "quer" zum Organigramm und damit zur Siloablage

In der digitalen Welt, die wir uns gerade einrichten (wenn wir die Einführung der E-Akte kreativ in unserem eigenen Interesse nutzen wollen), sind diese Einschränkungen nicht mehr gegeben. Wir können Akten und Vorgänge bilden, die bereichsübergreifend sind - also ganz anders funktionieren dürfen.

Die vorhandenen Aktenpläne sind eindimensional, also kompliziert

Dabei bestünde auch die Chance, eine ganz neue Form von Aktenplänen zu entwickeln. Die bekannten  Exemplare (im kommunalen Bereich z. B. der Boorberg-Aktenplan in Baden-Württemberg, der EAPl in Bayern oder auch der KGSt-Aktenplan) stammen alle noch aus der Papierwelt. Sie sind historisch gewachsen, vor allem aber stellen sie immer einen Kompromiss dar zwischen systematischen Gesichtspunkten und Rücksichtnahme auf die konkreten Einschränkungen, die Papierordner mit sich bringen.

Das bereitet Probleme bei der Akzeptanz durch die Mitarbeiter. Die Aktenpläne stellen ein Mischmasch dar aus verschiedenen Ordnungssystemen, die ineinander geschachtelt sind. Da gibt es

  1. objektorientierte Aktenplaneinträge (z. B. "037 Personalakten" oder "0430 Dienstgebäude"), bei denen für jedes Objekt (für jeden Mitarbeiter oder jedes Gebäude) eine Akte angelegt wird;
  2. prozessorientierte Aktenplaneinträge (z. B. "042 Landtagswahlen" oder  "0452 Beschaffungsmaßnahmen"), bei denen eigentlich pro Vorgang eine Akte angelegt werden müsste;
  3. themenorientierte Aktenplaneinträge (z. B. "0060 Allgemeines Verwaltungsrecht" oder "0470 Rechtsgrundlagen der IuK-Technik"), bei denen Akten für jedes Unterthema zu bilden sind. (Alle Beispiele aus dem Einheitlichen Aktenplan Bayern).

Diese Verschachtelung verschiedener Gesichtspunkte in einer einzigen Liste macht es Mitarbeitern ungeheuer schwer, den Aktenplan zu verstehen und ihn anzuwenden. Daraus resultiert wiederum ein spontaner Widerstand gegen den Aktenplan, der als behindernd, überflüssig, Schnee von gestern angesehen wird und insgesamt eine einzige Schikane darstelle.

Sirenengesänge aus der IT: Lasst uns doch einfach Googeln!

Angesichts dieser Skepsis von Mitarbeitern erheben sich die oben erwähnten Stimmen (ich nehme sie vorwiegend im IT-Umfeld wahr - und zwar sowohl in EDV-Abteilungen der Verwaltung wie in Softwarehäusern, die DMS-Produkte herstellen), die jede aktenförmige Ablage als veraltet abtun. Kürzlich sagte mir ein CIO einer großen Bundesbehörde (1.050 Mitarbeiter): "Ach, Herr Steinbrecher, Dokumentenmanagement ist doch völlig überholt. Akten? Wozu soll das gut sein? Wir brauchen überhaupt keine Ordner mehr! Wir werfen alle Dokumente in einen großen Sharepoint-Topf und fischen sie mit intelligenten Suchalgorithmen wieder raus."

Wozu braucht man also Ordner?

Ordner spiegeln Kontexte wider. Kontexte sind von Menschen (von einzelnen Beschäftigten oder im Team) definierte Sinnzusammenhänge. Darin lassen sich Dokumente, Aktivitäten und anderes einhängen.


Ein Beispiel aus dem realen Leben

Ein Sachbearbeiter der Personalabteilung erhält eine E-Mail aus der IT-Abteilung. Daraufhin legt er einen Vorgang an: "Personalbeschaffung Systemadministrator zum 1. Oktober". In diesen Vorgangsordner legt er alle anfallenden Dokumente (Stellenprofil, Anzeigen bei der Bundesagentur, im Intranet und in Zeitungen, eingehende Bewerbungen, Aufzeichnungen von Vorstellungsgesprächen, schließlich ein Arbeitsvertrag mit Liliane Friemann).
Nach ein paar Wochen stellt sich heraus: Frau Friemann hat große Probleme beim Umgang mit der UME von SAP. Aber ihre Aufgabe ist doch gerade die Useradministration!
Der IT-Leiter sieht sich die Aufgabenbeschreibung im Arbeitsvertrag AVERTRAG_Friemann,Liliane.pdf an. Da ist zwar allgemein die Rede von Benutzerverwaltung, aber nur von Windows, nicht von SAP.
Wie konnte das passieren? Er schaut in den Einstellungsvorgang und liest noch einmal die ausgefüllte Checkliste vom Vorstellungsgespräch PROTOKOLL_Friemann_Sysadmin.xlsx. Merkwürdig, auch da kein Wort von SAP.
Stellenprofil her! STPROFIL_04.2.15_Sysadmin_2018-10.pdf. Nix von SAP. Aber das ist ja auch das spezielle Profil. Wie sieht es mit dem Musterprofil aus? Welches wurde denn da verwendet? Ah! STPROFIL_Sysadmin(allgemein)_MUSTER_20150307.docx. Das falsche Stellenprofil wurde verwendet. Das Profil Sysadmin(FModule) wäre das richtige gewesen. Jetzt ist klar, wann welcher Fehler passiert ist!

Dieses "Hochhangeln" von einem Dokument zu seinem Vorgänger ist nur eine von mehreren typischen Aufgabenstellungen, die mit "Googeln" oder auch "Künstlicher Intelligenz" nicht gelöst werden können. Wie soll ein Suchalgorithmus, der ja immer nur auf  das Finden eines einzelnen Dokuments ausgerichtet ist, den Zusammenhang zwischen verschiedenen Dokumenten darstellen können? Er kann es nicht, weil auch ein Mensch (mit unendlich hoher Suchgeschwindigkeit) es nicht könnte.

Denn die benötigten Dokumente haben kein einziges Metadatum gemeinsam. (Metadaten hier als Windows-Dateinamen dargestellt, aber das ändert nichts an der Grundstruktur). Manche der Dokumente tragen einen Verweis auf die Person, manche auf die Stellenart, aber kein Metadatum zeigt auf alle der benötigten Dokumente.

Strukturen als Sinn-Speicher

Allgemeine Regel: Man kann einen Sinn (d. h. den auf ein Ziel ausgerichteten Kontext von einzelnen Datenobjekten) nicht wiederfinden, der beim Indexieren ("Ablegen") dieser Objekte verloren ging. Wer denkt, Künstliche Intelligenz könnte das, hat KI nicht verstanden.

Das Denken in Einzeldokumenten statt in Vorgängen ist meines Erachtens ein Reflex des geschwundenen Bewusstseins vom gesellschaftlichen Zusammenhang. "Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen", ist als zentrale programmatische Aussage Margaret Thatchers für ihre politische Vision in Großbritannien überliefert. Auf einer anderen Bühne heißt der Satz "Es gibt keine Vorgänge, es gibt nur einzelne Dokumente und Tätigkeiten".

Mehrdimensionale Aktenpläne für die Digitale Zeit =

Die merkwürdig unübersichtliche Struktur der vorfindlichen Aktenpläne rührt natürlich daher, dass Akten auf Regalen oder in Hängeregistraturen untergebracht werden mussten. Die eindimensionale Reihung durfte nicht durchbrochen werden. Auch das Windows-Filesystem hat diese eindimensionale Ordnung übernommen - die Baumstruktur der Windows-Ordner ist ebenfalls eindimensional.

Wenn wir jetzt aber vor der Einführung der E-Akte stehen, dann ist diese Einschränkung hinfällig.

Abbildung 2: Zuordnung eines Vorgang zu einem Prozess und mehreren Objekten

Abbildung 2: Ein Vorgang kann einem Prozess und gleichzeitig mehreren Objektkategorien (z. B. Bürgern, Flurstücken) zugeordnet werden.

In einem (guten) Dokumentenmanagementsystem können wir problemlos einen Vorgang sowohl einem Prozess als auch einem oder mehreren Objekten zuordnen. Nehmen wir als Beispiel den Prozess "Baugenehmigungen bearbeiten". Einen konkreten Vorgang kann ich mit drei Mausklicks

  • dem Prozess "6024 Baugenehmigungen"
  • dem Objekt Nr. 1 "Flurstück 4321/24" bzw. "Karlstraße 21, Gemarkung Untertal"
  • dem Objekt Nr. 2 "Antragsteller/Eigentümer Gesine Meyerbeer" (mit hinterlegten Adressangaben usw.)

zuordnen. Mache ich das mit allen Vorgängen, dann kann ich mir als Sachbearbeiter jederzeit

  • eine Prozesssicht anzeigen lassen ("alle Baugenehmigungen, die unser Sachgebiet im letzten Monat bearbeitet hat");
  • eine Flurstücksakte (alle Vorgänge der letzten 5 Jahre zur Karlstraße 21, also die Bauanträge, Statikprüfungen und Nachbarschaftsbeschwerden);
  • eine Eigentümerakte über Gesine Meyerbeer (auch über die Jahre vor 2008, als sie noch Gesine Hardtbeuer hieß).

Mehrdimensionale Aktenpläne, wie wir sie erst einmal ganz grob skizzieren, sind für Sachbearbeiter (also Nicht-Registratoren und Nicht-Archivare) sehr viel logischer und übersichtlicher. Sie wirklich konkret und im Einzelnen auszuarbeiten - dazu braucht es aber noch sehr einigen Sachverstand.

Wie soll man vorgehen bei der Erarbeitung eines mehrdimensionalen Aktenplans für die eigene Verwaltung?

Auf jeden Fall nicht "am grünen Tisch" zu Projektstart. Früher haben wir das in unseren Projekten so versucht: am Anfang einen Workshop mit jeder Abteilung und jedem Sachgebiet. Dort wurden die Prozesse gesammelt und in einer Prozesslandkarte zusammengestellt. Dann wurden noch Wissensordner hinzugefügt. Und nach Beschaffung und Installation der DMS-Software wurde der Aktenplan dann formell im Rahmen des Roll-outs "in Kraft gesetzt". Also die Mitarbeiter wurden notdürftig geschult und sollten dann selbst loslegen.

Das war das klassische "Wasserfall-Modell" im Projektmanagement. Damit haben wir keine guten Erfahrungen gemacht. Die in der Vorphase erarbeiteten Aktenpläne funktionierten in der Praxis überhaupt nicht. Denn auch die beteiligten Mitarbeiter aus den Fachbereichen konnten sich in diesen sehr abstrakten Workshops nur sehr schwer vorstellen, wie die (zum Teil bereichsübergreifende) Arbeit im DMS später funktionieren würde. Die Arbeit auch mit dem prozessorientierten Aktenplan hakte nach wie vor.

Heute empfehlen wir ein anderes Vorgehen:

  1. In der Vorphase des Projekts, vor dem Start des Roll-outs, erstellen wir einen ganz groben Aktenplan - maximal zweistufig. In der Kommunalverwaltung stützen wir uns dabei meist auf Produktpläne, soweit vorhanden.
  2. Die eigentliche Erstellung des Aktenplans im Detail findet dann im Roll-Out statt. In den agilen Sprints (wir orientieren unser Projektmanagement an Scrum) wird Prozess für Prozess im DMS in Betrieb genommen. Und erst zu diesem konkreten Zeitpunkt wird dann auch der genaue Platz des Prozesses im Aktenplan (sein "Aktenzeichen" bzw. Aktenplaneintrag) festgelegt.

Damit haben wir in den letzten Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht.

Wir vom Forum Agile Verwaltung würden gerne mit Kolleg*innen (aus der Sicht von Projektleitungen oder aus Archivsicht) mit einschlägigen Erfahrungen in Dialog treten. Auch wenn sie nicht unbedingt unsere Lösungsideen teilen, aber den Anspruch, die Verwaltung in einem nachhaltigen Sinne fit zu machen für die digitale Akte.

Und wir stehen gerne für Beratungen in konkreten Projekten zur Verfügung.

Ansprechpartner

Wolf Steinbrecher (wolf.steinbrecher[ätt]agile-verwaltung.org)

Literatur

Wolf Steinbrecher, Martina Müll-Schnurr: Prozessorientierte Ablage: Dokumentenmanagement-Projekte zum Erfolg führen. Praktischer Leitfaden für die Gestaltung einer modernen Ablagestruktur, SpringerGabler, 3. Auflage, 2014

Wolf Steinbrecher: Agile Einführung der E-Akte mit Scrum: Die digitale Akte als kollaborative Teamplattform aufsetzen, SpringerGabler, 2019